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News der HSW Freiburg

Gastbeitrag: Win-Win Verhandlungen

30. Mai 2022

Artikel von Eric Décosterd, erschienen in "Entreprise romande", der zweimonatlich erscheinenden Zeitung der FER Genève.

Das Leben ist ein grosses, ständiges Spiel. Manchmal kooperativ, manchmal nicht kooperativ, manchmal ein Nullsummenspiel, manchmal nicht. Es ist gut, sich im Moment wieder in seinen Mathematikunterricht zu vertiefen, um unsere zeitgenössischen Probleme zu beleuchten. Wenn man sieht, wie schwer es unseren Politikern fällt, Win-Win-Entscheidungen zu treffen, muss man unweigerlich an das gute alte Nash-Gleichgewicht denken, das allen Spielern Wohlstand verspricht - unter der Bedingung, dass sie ein wenig nachdenken.

Worum geht es hier? Stellen wir uns die Strasse nach Vercorin vor, die manchmal zu schmal ist, als dass zwei Autos aneinander vorbeifahren könnten. Didier und John müssen leider aneinander vorbeifahren. In der Realität wird Didier losfahren, um als Erster vorbeizukommen, und John (er ist Engländer) wird zwangsläufig anhalten, um ihn vorbeizulassen. Wir sehen also, dass die Fahrer jeweils eine Strategie gewählt haben, die sich gegenseitig ergänzt, was letztendlich für beide einen Gewinn bedeutet: Die Autos schaffen es, aneinander vorbeizufahren. Stellen Sie sich nun vor, dass Sie zwei Didiers oder zwei Johns haben. In einem Fall wird es zu einem Unfall kommen, weil alle gleichzeitig durchfahren wollen; im anderen Fall wird die Situation wahrscheinlich andauern, weil die beiden Johns sich höflich verbeugen, um den anderen durchfahren zu lassen. Die Spieltheorie hilft, das Verhalten von Wirtschaftsakteuren zu verstehen. Sie basiert auf der Annahme, dass jeder Mensch immer eine rationale Wahl trifft, um seine Gewinne zu maximieren und seine Verluste zu minimieren.

Nehmen wir ein anderes, bekannteres Beispiel, das Gefangenendilemma. Zwei Gefangene (A und B) haben einen Einbruch begangen. Da sie in verschiedenen Räumen verhört werden, wissen sie nicht, welche Antworten ihr Kollege gibt. Wenn einer der Gefangenen seinen Komplizen verrät, kommt er frei, sein Komplize wird jedoch zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Wenn die Gefangenen sich gegenseitig denunzieren, wird jeder zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Im letzten Fall, wenn keiner von ihnen den anderen verrät, erhalten sie jeweils ein Jahr Gefängnis. Das Gefangenendilemma beschreibt also eine Situation, in der die individuellen Interessen den kollektiven Interessen entgegenstehen.

Lassen Sie uns nun natürlich über Russland sprechen. Wir stellen derzeit fest, dass seine Aussenpolitik weitgehend auf dem Gefangenendilemma aus der Spieltheorie basieren könnte. Beide Akteure hätten ein Interesse daran, zu kooperieren, aber da es keine Kommunikation zwischen ihnen gibt, wird sich jeder dafür entscheiden, den anderen zu verraten, wenn das Spiel nur einmal gespielt wird. Wenn einer kooperiert und der andere verrät, wird der Kooperierende stark bestraft. Wenn beide Spieler betrügen, ist das Ergebnis für sie ungünstiger, als wenn beide sich für die Kooperation entschieden hätten. Diese Situation erinnert an die Kuba-Raketenkrise, als Nikita Chruschtschow am 15. Oktober 1962 seine Absicht verkündete, eine Batterie von Atomraketen auf der Insel zu stationieren, weniger als 200 Kilometer von der amerikanischen Küste entfernt. In Aufbaustudiengängen wird häufig der sogenannte Win-Win-Ansatz gelehrt.

Worum geht es in diesem Buch? William Ury und Roger Fisher haben das Harvard Negotiation Project mit ihrem Buch Getting to Yes bekannt gemacht. Sie sind die Mitbegründer des Harvard Negotiation Project, eines Universitätsprogramms, das sich der theoretischen und praktischen Entwicklung von Verhandlungsführung und Konfliktlösung widmet. Vereinfacht gesagt geht es in einer Verhandlung nicht darum, den besten Kompromiss (eine sehr helvetische Haltung) zur Aufteilung der Gewinne zu suchen, sondern eine Vereinbarung zu finden, die die Gewinne aller Beteiligten erhöht. In der heutigen angespannten geopolitischen und wirtschaftlichen Lage behält dieser vor über dreissig Jahren vorgeschlagene Ansatz seinen Wert. Er beschreibt die Schlüssel zu vernünftigen Verhandlungen, einer wirksamen Alternative zu den beiden Positionen, die üblicherweise bei Verhandlungen eingenommen werden, nämlich die sanfte Methode (zu allen Zugeständnissen bereit sein, um Konflikte zu vermeiden, auch auf die Gefahr hin, das unangenehme Gefühl zu haben, über den Tisch gezogen worden zu sein) und die harte Methode (die Verhandlung als Konfrontation betrachten), die einen Sieger hervorbringen muss. Wenn wir in unseren Verhandlungstrainings Rollenspiele einsetzen, stellen wir immer wieder dasselbe fest: die Tendenz, sich sehr schnell in die Schützengräben zu stürzen, indem man zu jedem Gegenstand Stellung bezieht und den Kampf sucht, anstatt zunächst zu versuchen, die Interessen zu definieren, die beiden Parteien gemeinsam sind. Dabei ist diese Suche oft der Schlüsselfaktor für den Erfolg einer Verhandlung.